Die bekannte Autorin feiert am 1. November ihren 95. Geburtstag - Sie ist u.a. eine der letzten lebenden Zeitzeuginnen der Wiener "Hilfsstelle für nichtarische Katholiken" - Hintergrundbericht von Henning Klingen
Wien, 28.10.2016 (KAP) Ilse Aichinger, die große und mittlerweile betagte Dame der österreichisch-deutschen Nachkriegsliteratur, ist nicht gerade bekannt für ihre Nähe zur Kirche. Schon lange sei sie aus der Kirche ausgetreten, für kirchliches Personal hat sie mitunter Spott übrig, katholischer Lebensfreude ist sie gänzlich abhold: "Ich empfinde das Leben als eine Zumutung", sagte Aichinger in einem ihrer letzten Interviews bereits im Jahr 2005 gegenüber "Kathpress". Nun feiert die Autorin am 1. November ihren 95. Geburtstag - Anlass genug für einen näheren Blick auf ein selten beleuchtetes Kapitel in Aichingers Biografie: ihre Zeit in der vom Wiener Erzbischof Kardinal Theodor Innitzer 1940 ins Leben gerufenen Wiener "Hilfsstelle für nichtarische Katholiken".
Geboren am 1. November 1921 als Tochter eines katholischen Lehrers und einer jüdischen Ärztin in Wien, wurden Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga katholisch getauft. Als "Halbjüdin", wie sie sich selbst einmal bezeichnete, verbrachte sie die Kriegszeit in Wien. Auch ihre Familie wurde von den nationalsozialistischen Deportationen nicht verschont. Zwar gelang ihrer Schwester 1939 noch die Ausreise nach England, ihre Großmutter und weitere Angehörige wurden jedoch 1942 nach Minsk deportiert. Überlebt hat sie die Nazizeit schließlich als eine von rund 200 "U-Booten" in Wien, d.h. untergetaucht ohne gültige Papiere, ohne Lebensmittelkarten, ohne festen Wohnsitz.
In dieser Zeit bot ihr auch die "Hilfsstelle für nichtarische Katholiken" im Erzbischöflichen Palais eine wichtige Anlaufstation. Sie sei in die Hilfsstelle gekommen, "um unter Menschen zu sein, mit denen man reden und sich austauschen konnte und wo man nicht bespitzelt wurde", so Aichinger im Gespräch mit "Kathpress". Die eigentliche Leistung der Hilfsstelle habe ihres Erachtens nach "nicht in materieller Hilfe" bestanden, sondern darin, "den Menschen Selbstwertgefühl zu geben und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Existenz nicht ganz umsonst ist".
Aichinger, die der Hilfsstelle in ihrer Erzählsammlung "Kleist, Moos, Fasane" einen eigenen Text gewidmet hat, würdigt vor allem die Rolle von Jesuitenpater Ludger Born, der von Innitzer mit der Leitung der Hilfsstelle betraut worden war. Seine charismatische Persönlichkeit habe "Hoffnung geschenkt, wo es keine Hoffnung mehr gab". Aichinger: "Er gab den Menschen Selbstwertgefühl und Selbstgewissheit - und letztlich braucht man beides nicht nur zum Leben sondern auch zum Sterben." Auch wenn P. Born laut Aichinger letztlich niemanden vor dem Tod bewahren konnte, so sei es dennoch sein großes Verdienst gewesen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der dem Tod widerstanden werden konnte.
"Aber hier war ein Land..."
Anders als Kardinal Innitzer, an dem Aichinger aufgrund seiner umstrittenen "Heil Hitler"-Unterschrift kein gutes Haar lässt, setzte Aichinger P. Born in "Kleist, Moos, Fasane" ein literarisches Denkmal. So liest man in ihrem Text "Hilfsstelle" die folgende Schilderung:
"Ich sah uns wieder an der alten Kirchenmauer lehnen und die anderen erwarten, ehe wir hineingingen. Ich hörte die Gespräche von damals wieder, die Geplänkel, selbst die Spiele, mit denen wir uns die Freiheit des Schulkinderdaseins, der hellen verlassenen Schulhäuser zurückspielten, die dahin war. Ich sah uns die alte Kirche betreten, ein Schiff, das uns aufnahm, das uns in ein Land trug, wo keine Bürgschaften verlangt wurden, wo man nicht zurückgewiesen oder mit Unbehagen betrachtet wurde, ein Land, das sich umso mehr als Heimat erwies, je fremder es vielen von uns zuerst schien. Der Westen und der Osten - unnütz, die aufzuzählen, die uns allein mit unseren Verfolgern gelassen hatten. Aber hier war ein Land. Ich sah uns an der rechten Seite der Kirchenbänke entlanggehen.
Nie war die Tür verschlossen, die Treppe versperrt, die uns weiterführte. Nie waren wir unwillkommen, nie war die Stimme ungeduldig, die uns empfing. Das Glück, das uns hier gewünscht wurde, hielt stand (...) unser Pater, der Äpfel oder Nüsse über den Tisch warf, der nach den schwierigsten Augenblicken des Tages fragte, und wie man ihnen beikommen könne, der gelassen den Platz vor der geheimen Polizei kreuzte, die Brücken, wann immer es ihm nötig schien; seine Helferinnen, die uns zu Schwestern oder Müttern wurden, oder zu beiden, die heimlichen Proben zu unseren Festen, zu denen manchmal der Kardinal kam, als Gastgeber der Hilfe und als ihr Gast. Nicht wie Wohltäter zu Waisenhausfesten zu kommen pflegen, mit einem raschen Lächeln und ebenso rasch entschlossen, zu gehen. Er kam, bereit zu bleiben und nicht nur den Augenblick der Freude mit uns zu teilen. Die ihn gesehen haben, wissen es."
"Die größere Hoffnung"
Die Erfahrung der NS-Zeit spiegelt sich verfremdet auch in Aichingers erstem und einzigem Roman "Die größere Hoffnung" von 1948. Der märchenhafte, subjektive Ton, in dem sie hier die Schicksale jüdischer Kinder erzählt, hat viele Kritiker befremdet und überfordert. Unter Kollegen aber sorgte der Roman für Aufsehen. 1952 erhielt die junge Autorin den Preis der Schriftsteller-Vereinigung Gruppe 47 für die "Spiegelgeschichte", worin sie das Leben einer Frau rückwärts erzählt - vom Tod bis zur Geburt. Die Erzählung markiert ebenso wie der Band "Der Gefesselte" (1953), in dem sie veröffentlicht wurde, Aichingers literarischen Durchbruch. Ihre parabelhaften Geschichten, in denen das Paradoxe menschlicher Existenz zum oft verblüffenden Ausdruck kommt, wurden prägend für die Entwicklung der Kurzgeschichte im deutschsprachigen Raum.
In der Gruppe 47 lernte Aichinger auch den Lyriker Günter Eich (1907-1972) kennen und lieben. Sie heirateten 1953. Das erste gemeinsame Kind, Sohn Clemens, wurde 1954 geboren. Clemens Eich, der selbst Schriftsteller wurde, aber nie aus dem großen Schatten seiner Eltern treten konnte, starb 1998 bei einem Treppensturz. "Ich glaube, dass sie auf irgendeine Weise da sind, aber nicht auf eine Weise, die mir zugänglich ist", sagt Aichinger über ihr Verhältnis zu Verstorbenen, die ihr etwas bedeutet haben.
Widerständig und widerspenstig wie ihr Wesen ist auch ihr überschaubares Werk. Nach den ersten Erfolgen ging sie nicht etwa den einmal eingeschlagenen Weg weiter, sondern schrieb Hörspiele, Dialoge und Gedichte, die nahe ans Verstummen gebaut sind, in denen sie die Reduktion sprachlicher Mittel auf die Spitze treibt. Auch ihre Erzählungen wurden zusehends rätselhafter. Ein großes Publikum konnte sie damit nicht mehr gewinnen, wohl aber mehrere der bedeutendsten Literaturpreise in Deutschland und Österreich.