Wiener Theologe skizzierte bei "Pax Romana"-Kongress in Warschau "nachkonstantinische Ära" und neue Chancen der Kirche in europäischer Angstgesellschaft - "Downsizing"-Reformen in Kirche "gehen nicht weit genug" - Christlich gelebte Kultur des Vertrauens könnte Kirchen zum "Salz der Erde" machen
Warschau, 20.04.2018 (KAP) In der gegenwärtigen "dramatischen Übergangszeit" der katholischen Kirche in Europa gilt es der Versuchung zu widerstehen, lediglich "Downsizing" zu betreiben - also den traditionellen Kirchenbetrieb zu verkleinern. Der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner empfiehlt stattdessen ein neues "Aggiornamento" im Sinne des Zweiten vatikanischen Konzils und auch von Papst Franziskus. Die "erste Frage für eine Kirche auf dem Weg in eine neue Zukunft" laute: "Wie steht es um die Welt, um die Menschen? Was ist ihre Hoffnung und Freude, ihre Trauer und Angst?" Welche neuen Chancen sich dadurch für eine Kirche in der von Machtverlust geprägten "nachkonstantinischen Ära" ergeben könnten, skizzierte Zulehner bei einem Vortrag unter dem Titel "Neue Schläuche für jungen Wein" am Freitag in Warschau.
Anlass für die Äußerungen des Theologen, Werteforschers und Religionssoziologen war der dreitägige Kongress "Solidarity within Europe" der internationalen katholischen Akademikerbewegung "Pax Romana", der von 20. bis 22. April in der polnischen Hauptstadt stattfindet. Zulehners Hauptthese und Appell: Weg von der innerkirchlichen Bindung der Kräfte, um einen vergehenden Status quo aufrechtzuerhalten, hin zu einer Ausrichtung auf die heutige Welt und ihre vielfältigen Herausforderungen.
"Die Reformen, die heute stattfinden, gehen nicht weit genug" und blieben einer alten Ära verpflichtet, konstatierte der Theologe. Die von vielen Diözesen derzeit in Angriff genommenen Strukturreformen würden letztlich die Kräfte nur innerkirchlich binden, "eine Art Kirchenimplosion findet statt". Das Schicksal der Welt und der Menschen gerate dabei aus dem Blick. "Eine Kirche, die sich mit sich selbst beschäftigt, wird krank", berief sich Zulehner auf Papst Franziskus.
"Roma locuta, causa finita" ist passé
Dieser habe neben seinem oftmaligen Ruf der Kirche an die Ränder der Gesellschaft auch innerkirchlich die Weichen neu gestellt, wies Zulehner hin: Einen "tiefgreifenden Wandel" ortet er hinsichtlich der Dezentralisierung. "Der Papst ist überzeugt, dass der Heilige Geist nicht nur in Rom wirkt"; er habe bereits in seiner "Regierungserklärung", dem Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" von November 2013, 40 Mal regionale Bischofskonferenzen zitiert. Und 2019 wird die von Franziskus einberufenen Amazonas-Synode voraussichtlich die Ordination verheirateter Katechisten beschließen, der Papst wird - so Zulehners Prophezeiung - den dort versammelten Bischöfen Amazoniens sagen: "Wenn ihr genug gebetet und gefastet hat und ihr diese Entscheidung für richtig und notwendig erachtet, dann macht es."
Das werde auch andere Bischofskonferenzen zu mehr Reformen ermutigen, mutmaßte Zulehner. Der alte Satz "Roma locuta, causa finita" (dt.: Rom hat entschieden, die Sache ist damit erledigt) zähle nicht mehr; die Weltkirche lerne somit Synodalität und Subsidiarität.
Und noch entscheidender im Blick auf den Weltauftrag der Kirche: Papst Franziskus verschiebe auch die Akzente in der Pastoralkultur: "Der Akzent wandert von der Sünde zur Wunde, vom Moralisieren zum Heilen. Die Kirche führt die Menschen nicht mehr in den Gerichtssaal, sondern in ein Feldlazarett", griff Zulehner ein Bild des Papstes auf. Es werde nicht mehr das allgemeine Kirchengesetz auf alle unterschiedslos angewendet. "Und wenn das Gesetz im Einzelfall schadet, kommt das Erbarmen als Vollendung des Gesetzes und der Gerechtigkeit Gottes zum Tragen."
Alte "Schläuche" ablegen
Die konstantinische Ära der Kirche (mit dem römischen Kaiser Konstantin begann in Europa die enge Verbindung von Thron und Altar) ende nun, Christsein werde für die Menschen statt zu einem unentrinnbaren Schicksal zu einer Wahloption, hielt Zulehner fest. Nunmehr genügten kulturelle Traditionen nicht mehr, sondern es brauche attraktive "Gratifikationen", die plausibel machen, warum das Evangelium für das persönliche und gesellschaftliche Leben ein Gewinn ist.
Freilich gebe es immer noch Rückzugsgefechte - und "wachsenden Widerstand" gegen den Kirchenkurs von Papst Franziskus - dem wiederum Zulehner mit der internationalen Solidaritäts-Initiative "www.pro-pope-francis.com" begegnet. Alt und brüchig nennt der Theologe etwa die "Schläuche" hierarchische Strukturen, Klerikalismus, Angst vor Menschenrechten, antiquierte Geschlechterrollenbilder und antifeministische Genderideologie. Und vormodern sei "nicht zuletzt das Verhältnis zu den vielfältigen Gestalten von Sexualität und der Liebe zwischen den unterschiedlichen Geschlechtern".
Wie der "junge Wein" aussehen könnte, der in "neue Schläuche" zu füllen wäre, umschrieb der Wiener Theologe folgendermaßen: Die Kirche könnte mit einer "Gegenkultur des Vertrauens" heilend wirken in den von Verlustängsten geprägten westlichen Gesellschaften. Kulturen, die von Angst geprägt sind, neigen laut Zulehner zur Abgrenzung, internationale Solidarität werde durch Nationalismus abgelöst, auch die Freiheit als zweiter großer wert Europa sei in Gefahr. Eine mit Gott verbundene, aus seinem Geist lebende Kirche jedoch "könnte dazu beitragen, die Seele Europas zu heilen", so die Vision Zulehners.
In der einen Welt geht uns alles an
Zu einer christlich motivierten Kultur des Vertrauens gehöre "das gläubige Wissen um die Einheit der Schöpfung, um das eine Welthaus". "Wenn nur ein Gott ist, dann ist jeder einer von uns, und jede eine von uns", verband der Theologe den Eingottglauben mit der unverfügbaren Menschenwürde. "Wenn das fünfjährige Flüchtlingskind Aylan Kurdi in der Ägäis ertrinkt, ertrinkt einer von uns", und die Atomkatastrophe von Fukushima verdeutliche: "Wenn ein Glied nicht nur in der Gemeinde, sondern in der Menschheit leidet, leiden wir alle mit."
Weitere Referate beim Warschauer "Pax Romana"-Kongress sind der Rolle der Kirche im heutigen Polen, der Migrationsfrage aus christlicher Sicht und der "Vision eines neuen Europas" gewidmet. Außerdem tauschen sich "Pax Romana"-Mitglieder über nationalistische und populistische Tendenzen in ihren Heimatländern aus.