Wiener Gedenkveranstaltung warnt vor weiter bestehendem Antiziganismus und Romafeindlichkeit - Bundespräsident Van der Bellen in Videobotschaft: Menschenverachtung, Sündenbock, Hass und Gewalt nie wieder als politische Instrumente einsetzen
Wien, 02.08.2020 (KAP) Aufrufe zu Wachsamkeit gegenüber Rassismus gegenüber Angehörigen der Roma und Sinti haben den am Sonntag in Wien begangenen Gedenktags an Völkermord von 500.000 Roma und Sinti während der NS-Zeit bestimmt. Auch heute sei noch mehr Bewusstsein in der Zivilgesellschaft über die Situation der Volksgruppe notwendig, und jeder Einzelne wie auch im Besonderen Politiker sollten bei rassistischen Vorfällen die Stimme erheben und "hinter uns stehen", forderte die Leiterin der Romapastoral der Diözese Eisenstadt, Manuela Horvath, bei einem vom Verein "Lowara-Roma Österreich" veranstalteten Gedenken am Ceija-Stojka-Platz. "Antiziganismus und Romafeindlichkeit sind Themen unserer Gegenwart", betonte sie.
Trotz der schrecklichen Ereignisse sei es bisher nicht immer gelungen, Lehren aus der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen, bedauerte Horvath. Die selbst aus der Roma-Volksgruppe stammende Theologin verwies hier auf ein derzeit in staatsanwaltlicher Prüfung befindliches Video mit Hassaussagen gegen Roma und Sinti, die ein steirischer FP-Mandatar im Internet geteilt hatte. Auch unabhängig davon komme es vielerorts immer wieder zu Beschmierungen wie etwa "Roma raus". Horvath: "Abwarten kann hier fatale Folgen haben. Es gehört zu unserer Verantwortung für eine friedliche Gegenwart und Zukunft, dass wir unsere Stimme erheben, wo Unrecht geschieht."
Zu mehr Wachsamkeit mahnte bei der Veranstaltung auch der Referatsbischof für Roma, Sinti und Jenische in der Österreichischen Bischofskonferenz, Franz Scharl. Dem "neuen Rassismus" gelte es Einhalt zu bieten, sagte der Wiener Weihbischof, der hier auf Kathpress-Nachfrage ebenfalls auf die Beschimpfungen durch die steirische FP-Spitze verwies. Wichtig wäre es laut Scharl zudem, ebenso wie die Roma und Sinti auch die Jenischen offiziell als Volksgruppe anzuerkennen. Von Kirchenseite wolle man bereits in naher Zukunft eine eigene Seelsorge für diese Bevölkerung aufnehmen. Als "Brüder und Schwestern" sollten Roma, Sinti und auch Jenische in allen Bereichen "ihren Platz erhalten".
Van der Bellen: Gedenken und Gestalten
Solidarisch mit den Roma und Sinti erklärte sich auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Er sei "sehr froh", dass das Gedenken trotz Covid-19 stattfinde und somit auch heuer die Erinnerung an den Völkermord als das "schrecklichste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit" wachgehalten werde, betonte das Staatsoberhaupt in einer bei der Veranstaltung gezeigten Videobotschaft. Dies sei man den Opfern, den Überlebenden und auch den Nachkommen schuldig. Der Blick auf die konkreten Schicksale im KZ Auschwitz führe die "Unverständlichkeit des Rassenwahnsinns der Nazis offen vor Augen", so Van der Bellen.
Lange Zeit sei das Schicksal der Roma und Sinti "verdrängt, verschwiegen und vergessen" worden, fuhr der Bundespräsident fort. Auch heute noch sei ihre Kultur "mit Klischees und Vorurteilen belastet". Die Zeitzeugen unter den Roma und Sinti, die aus der NS-Zeit berichten könnten, würden heute immer weniger. Zugleich steige jedoch das Interesse der Menschen, Gerechtigkeit für die Opfer zu suchen; so würden Denkmäler errichtet oder fehlende Roma-Dörfer wieder aufgebaut. Das Gedenken sehe er auch als Auftrag der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft: "Wir müssen dafür sorgen, dass Menschenverachtung, Sündenbock, Hass und Gewalt nie wieder als politische Instrumente eingesetzt werden", unterstrich Van der Bellen.
Nur jeder Zehnte überlebte
Der Roma-Gedenktag findet alljährlich am 2. August statt, dem Jahrestag der Ermordung der letzten 3.000 Roma und Sinti in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Insgesamt wurden in den Jahren des Nationalsozialismus rund 500.000 Roma und Sinti in Europa als "Zigeuner" ermordet. Von den knapp 11.000 österreichischen Roma und Sinti überlebten nur knapp zehn Prozent den Holocaust, der auf Romani als "Porajmos" bezeichnet wird. Erst 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Genozid vom Europäischen Parlament im April 2015 anerkannt und zu einem jährlichen Gedenktag am 2. August - dem internationalen "Roma Genocide Memorial Day" - aufgerufen.
Leidensweg auch nach 1945
Zwei der wenigen Überlebenden von damals sind die Großeltern von Roma-Seelsorgerin Horvath, die beide 17-jährig zur Zwangsarbeit in Konzentrationslager deportiert wurden - zunächst nach Dachau, dann nach Buchenwald, später nach Mauthausen. Es sei ihnen gelungen, sechs Jahre bis Kriegsende zu überleben, allerdings unter "grausamen" Umständen, berichtete die Enkelin.
Besonders bedrückend waren auch die Erlebnisse im KZ Mauthausen, verlas Horvath einen Bericht des mittlerweile verstorbenen Großvaters. Dort hieß es wörtlich: "In Mauthausen musste ich im Steinbruch arbeiten. Auch wenn Schnee lag, haben wir die Steine ohne Handschuhe ausgegraben. Eines Tages sah mich einer von der SS, der war 1938 Bauaufseher, wo ich gearbeitet habe. Er rief mich zu sich, damit ich den Kübel, aus dem der Hund fraß, sauber machte. Das, was de Hund übrig ließ, habe ich gegessen. Als die Göring-Werke bombardiert wurden, marschierten wir mit der SS dorthin, wir mussten die Leichen wegbringen."
Der Leidensweg ihres Großvaters sei nach der Befreiung von Mauthausen noch weitergegangen, berichtete Horvath. Nach seiner Rückkehr nach Oberwart habe er mit Entsetzen feststellen müssen, dass die dortige einstige Roma-Siedlung nicht mehr existierte. "Es rechnete niemand damit, dass Roma aus den Lagern wieder heimkehren würden, daher wurde die Siedlung geplündert und zerstört", berichtete die Roma-Seelsorgerin. Nur 19 der 360 verschleppten Oberwarter Roma hätten den Völkermord überlebt. Zeitlebens habe ihr Großvater Angst gelebt, neuerlicher Verfolgung ausgesetzt zu sein, wenn er über seine KZ-Erlebnisse erzähle - und habe dies dennoch getan.
"Nie wieder"
Im Rahmen des von zahlreichen Kunstperformances begleiteten Gedenkens gab es eine Schweigeminute für die Genozid-Opfer und Ansprachen u.a. von Wiens Vizebürgermeisterin Birgit Hebein (Grüne) und Bezirksrätin Mireille Ngosso (SPÖ). Die für Kultus- und Volksgruppenangelegenheiten zuständige Ministerin Susanne Raab (ÖVP) meldete sich mit einer Aussendung, in der eingemahnt wurde, dass "das unsägliche Leid und der Massenmord an den Roma und Romnja nie in Vergessenheit geraten und sich niemals wiederholen" dürften. Keine Form von Hass und Hetze - ob Rassismus, Antisemitismus oder Antiziganismus - dürfe in der österreichischen Gesellschaft Platz haben, was auch eine der wichtigsten Aufgaben der Gedenkkultur sei, so die Kanzleramtsministerin.
Ähnlcih bezeichnete Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) in einer Aussendung die Kultur der Roma und Sinti "integraler Bestandteil der österreichischen Identität" und erinnerte daran, dass die NS-Verfolgung der Sinti und Roma mit ihrer Brandmarkung als "Asoziale und Fremdrassige" begonnen habe. Seitens der Israelitischen Kultusgemeinde erklärte auf selbem Weg Präsident Oskar Deutsch, dass angesichts der #blacklivesmatter-Bewegung ein "gemeinsames Gedenken" und Solidarität gegen Rassismus Gebot der Stunde seien. Erst durch ein Bewusstmachen des Völkermordes an Roma und Sinti könne der "Auftrag, der sich aus der Formel 'Nie wieder!' ableitet", erfüllt werden.
Mit Texten, Bildern und Liedern präsent war bei der Gedenkveranstaltung auch die 2013 verstorbene Namensgeberin der vor der Altlerchenfelder Kirche gelegenen Veranstaltungsadresse, die Künstlerin Ceija Stojka. Die 1933 als Kind fahrender Rom-Lowara aus dem Burgenland Geborene verbrachte die Jahre 1941 bis 1945 ebenfalls in Konzentrationslagern - Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen -, wobei sie mit ihrer Mutter und vier Geschwistern als einzige Mitglieder einer 200 Personen zählenden Großfamilie überlebte. Stojka verarbeitete ihre furchtbaren Erlebnisse in zahlreichen Büchern, Bildern und Liedern. Jahrzehntelang setzte sich die tiefgläubige Sängerin, Autorin und Malerin für die Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma im Nationalsozialismus ein und war darum bemüht, das ihnen widerfahrene Unrecht sichtbar zu machen.