Wiener Neurowissenschaftler und Buchautor: Geschlechter ergänzen sich wechselseitig und können einander am besten beraten - Sorge über verloren gegangenen "Eros" durch Gender-Erziehung
Wien, 21.09.2018 (KAP) Sind Männer männlich und Frauen weiblich, so profitieren alle davon: Mit dieser These lässt der Wiener Psychiater und Neurowissenschaftler Raphael Bonelli im soeben erschienenen Buch "Männer brauchen Frauen - und umgekehrt" aufhorchen. "Frau und Mann sind verschieden, aber auf gleicher Augenhöhe. Man sollte sie als gleichwertig, aber nicht als gleichartig behandeln", so der Wissenschaftler von der Sigmund-Freud-Privatuniversität am Freitag im Interview mit "Kathpress". Die Forschungsergebnisse der vergangenen zwei Jahrzehnte legten dies nahe.
Der Blick auf Mann und Frau veränderte sich im vergangenen Jahrhundert stark. Ausgehend von sehr starren Rollen und extremer Unfreiheit, als man alles mit der Biologie zu erklären versuchte, habe das Pendel dann mit der Gendertheorie ins andere Extrem umgeschlagen. "Das soziale Geschlecht wurde überbetont, die biologischen Grundlagen übersehen", so der Direktor des Instituts für Religiösität in Psychiatrie und Psychotherapie (RPP). Auch dies sei "maßlos überzogen" gewesen, zugleich aber auch notwendig für die Überwindung alter Vorurteile und die Entwicklung des heutigen Denkens.
Heute könne man jenseits von Klischees wieder getrost von Männlichkeit und Weiblichkeit sprechen: "Männer sind nicht vom Mars, Frauen nicht von der Venus. Aber es lassen sich mit der Gaußschen Verteilungskurve rund 200 Gruppenunterschiede auch jenseits von Körperhöhe und Muskelkraft beobachten, und zwar schon ab Lebensbeginn", betonte der Buchautor. Beispielsweise reagierten Mädchen von Anfang an stärker auf Personen, Buben hingegen auf Objekte. Das Forschungsgebiet der Gendermedizin berücksichtige sowohl die biologische als auch die soziale Prägung und korrigiere somit die Radikalannahmen von einst.
Millennials in Nöten
Nachgewiesen sei auch, dass ein Mann umso attraktiver auf Frauen wirkt, je männlicher er ist; gleiches gilt umgekehrt für Frauen. Die Erziehungsweise vor der Jahrtausendwende habe jedoch dazu geführt, dass die Geschlechter immer mehr aneinanderrückten, mit dem Ergebnis einer starken Abnahme des Interesses füreinander. Dies kennt Bonelli aus seiner psychotherapeutischen Praxis. "Nie gab es so viele Single-Haushalte und Beziehungsabbrüche wie bei den zwischen 1980 und 2000 geborenen Millennials, und keine Generation hatte so wenig Sex." Besonders drastisch zeige sich dies bei Menschen mit Hochschulabschluss. Die Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern - der "Eros" - sei verloren gegangen.
Doch was genau ist nun männlich, was weiblich? Bonelli sprach von körperlichen, psychischen und kognitiven Unterschieden. "Mann und Frau lösen Aufgaben gleich schnell und gut, doch auf verschiedene Weise und mit anderen Gehirnarealen", so der Neurowissenschaftler. Männer seien nachweislich emotional stabiler, stressresistenter, sachlicher und fokussierter, hätten dabei aber kaum Zugang zu eigenen Gefühlen. Frauen seien hingegen "lebensnäher", begabt mit Sinn für Schönheit und Leben, Hausverstand, Empathie sowie emotionaler und sozialer Intelligenz, und sie pflegten eher eine assoziative Denkweise.
Der Umgang mit der eigenen Geschlechtlichkeit wolle freilich gelernt sein: Der Psychotherapeut zählte hier mehrere "Liebestöter" auf, allen voran die Beratungsresistenz, bei dem jeder im geschlechtlichen Narzissmus verharre. Dabei verachtet jeder das jeweils andere Geschlecht und lässt sich nichts sagen. Männer liefen dann Gefahr, rücksichtslos, gewalttätig und sexuell enthemmt zu werden oder zu "Nerds" zu verkommen, während bei Frauen häufig emotionale Instabilität sowie histronische, intrigante oder übergriffige Züge zum Problem würden. Bedenklich sei aber auch, wenn man die eigene Geschlechtlichkeit verkümmern lasse: "Männer werden dann launisch, zickig, unsachlich und können nicht zu ihren Entscheidungen stehen; Frauen dem Leben gegenüber verschlossen, unfruchtbar, kalt und gleichgültig", erklärte der Experte.
Geschlecht als Talent sehen
Nutze hingegen jedes Geschlecht seine Stärken, entstehe daraus ein Mehrwert für alle. Frauen und Männer könnten das jeweils andere Geschlecht am besten coachen. "Eine Partnerschaft funktioniert, wenn sich der eine vom anderen was sagen lässt; nicht aber, wenn beide auf Konkurrenz gehen und beide versuchen, etwa die bessere Frau zu sein", sagte Bonelli. Bedenklich sei es daher, wenn die Geschlechter einander imitieren wollten; wenn etwa in der Paartherapie Männer auf Suche nach ihrem "weiblichen Anteil" geschickt werden oder Frauen versuchen, möglichst "tough" zu sein. So komme es psychodynamisch zur Verdrängung der eigenen Geschlechtlichkeit. Therapeutisches Ziel wäre, dass beide ihre Geschlechtlichkeit in die Beziehung einbringen und sich niemand dem anderen überlegen sieht, sondern eben verschieden", so der Psychiater.
Für die Kindeserziehung riet Bonelli, das Kind ideologiefrei zu beobachten und vorhandene Talente zu fördern. Dazu zählten auch Weiblichkeit bzw. Männlichkeit. "Man muss Kinder nicht krampfhaft umerziehen. Was hat eine Gesellschaft davon, wenn 50 Prozent der Mechaniker Frauen sind?" Paradoxerweise zeige sich, dass in besonders Gender-konformen Ländern wie Skandinavien Frauen auffallend häufig typische Frauen- und Männer Männerberufe wählen. Und Bonelli zum Thema "gläserne Decke": "Dass sich Frauen kaum für Chefetagen bewerben und viele freiwillig auf Karriere verzichten, kommt unter anderem daher, dass laut Studien die allermeisten sagen: 80, 100 Stunden pro Woche arbeiten - das will ich nicht, weil mir dabei das Leben verloren geht. Das ist es mir nicht wert. Männer sind viel kompetitiver und machen Purzelbäume für 20 Euro mehr, bildlich gesprochen."