Deutscher Bundespräsident bei traditionellem Johannisempfang der Evangelischen Kirche: "Kirchen sollten aufhören, vor lauter Angst vor ihrem eigenen Bedeutungsverlust zu viel nur um sich selbst zu kreisen"
Berlin, 23.06.2022 (KAP/KNA) Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Kirchen seines Landes aufgerufen, trotz eigener Krise den Blick wieder stärker auf ihre eigentliche Arbeit zu richten und am Alltag der Menschen teilzunehmen. "Die Kirchen sollten aufhören, vor lauter Angst vor ihrem eigenen Bedeutungsverlust zu viel nur um sich selbst zu kreisen", sagte das Staatsoberhaupt am Mittwochabend in Berlin beim traditionellen Johannisempfang der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Steinmeier betonte: "Im Blick sein müssen vielmehr die Armen und die Schwachen, ob es psychische, spirituelle oder auch ganz praktische Nöte und Bedürfnisse sind, die hier nach Beistand rufen."
Steinmeier verwies darauf, dass die Distanz zwischen vielen Menschen und der Kirche gewachsen sei. "Nicht alles hat mit dem Missbrauch und mit schleppender Aufarbeitung zu tun, und notwendig ist zügige Aufarbeitung ganz ohne Zweifel", mahnte der Bundespräsident mit Blick auf die Missbrauchsfälle in der Kirche. "Die Menschen wollen eine moderne, eine aufgeschlossene Kirche, die an ihrem Alltag teilnimmt, die sich ihren täglichen Problemen widmet", so Steinmeier, der selbst evangelischer Christ ist.
Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus wandte sich in ihrer Ansprache dagegen, angesichts einer komplizierten Wirklichkeit Fragen "auf ein simples Ja oder Nein" zu reduzieren. "Könnte es auch im gegenwärtigen Streit um Krieg und Frieden die Aufgabe von Christinnen und Christen sein, sich als Anwälte und Anwältinnen der Unverfügbarkeit zu verstehen?", fragte sie. Dies bedeute "ausdrücklich dem Nichtwissen das Wort zu geben, der Skepsis ihr Recht einzuräumen, dem Zweifel den Platz freizuhalten".
Mit Blick auf die ethischen Fragen rund um den Krieg in der Ukraine müssten die Aporien und Dilemmata akribisch benannt werden, forderte die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen. Der Schutz von Leben, Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden sei Aufgabe des Staates - "notfalls auch mit Gewalt". Dabei gelte es nüchtern zu sehen: "Solcher Schutz und alle Hilfe zur Verteidigung sind ihrerseits mit Gewalt verbunden und stehen in Gefahr, neues Leid zu verursachen und sich schuldig zu machen", sagte Kurschus.
Fragen nach Frieden und Sicherheit dürfen nach ihrer Auffassung auch nicht ausgespielt oder aufgerechnet werden gegen Fragen von Klimaschutz und Bewahrung der Schöpfung. Klimawandel sei der größte Hungertreiber, und Klimapolitik sei auch eine Frage von Gerechtigkeit und Sicherheit, unterstrich die EKD-Ratsvorsitzende.
An dem Empfang nahmen zahlreiche Gäste aus Politik, Kirchen, Kultur und Wirtschaft teil. Darunter waren Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), der päpstliche Nuntius Erzbischof Nikola Eterovic, der geschäftsführende Generalsekretär des Weltkirchenrates, Ioan Sauca, der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, und der Sprecher des Koordinationsrats der Muslime, Mohamed El Kaada.