Noch bis Samstag Europäische Toleranzgespräche Fresach zum Thema "Wachstum am Ende - Was jetzt?" - Superintendent Sauer: Besser "inwendig wachsen an Weisheit und Erkenntnis" - Ehemaliger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschland plädiert für lebensdienliche Haltung
Klagenfurt, 25.05.2023 (KAP) Mit Beiträgen hochkarätiger Fachleute wurden am Donnerstag die diesjährigen Europäischen Toleranzgespräche im Kärntner Bergdorf Fresach eröffnet. Sie stehen unter dem Thema "Wachstum am Ende - was jetzt?". In seiner Eröffnungsrede betonte der Kärntner Superintendent Manfred Sauer, dass nicht jede Entdeckung oder jedes Wachstum ein Schritt in eine bessere und humanere Welt sei. "Mit so manchen Fortschritten und Wachstumsschüben zertreten und vernichten wir die Lebensgrundlagen vieler anderer Menschen und letztendlich unsere eigenen", mahnte er. Am Mittwoch hatte der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, bei der Auftakt-Veranstaltung in Villach zu deutlich schärferen Worten im Hinblick auf das "Genug" ermutigt.
Im Rahmen der Toleranzgespräche werden im Kärntner Bergdorf Fresach von Donnerstag bis Samstag ethische wie ökologisch-ökonomische Perspektiven aufgezeigt. Die Veranstaltung findet heuer zum neunten Mal statt. Die Eröffnungsrede hielt am Donnerstag die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz zum Thema "Wachstum am Anfang". Zu Wort kommen u.a. die Klimaaktivistin Lena Schilling, der Gemeinwohlexperte Christian Felber, der katholische Theologe Paul Zulehner sowie der frühere evangelische Bischof Michael Bünker.
Der Kärntner Superintendent forderte, zwischen tödlichem und lebensförderndem Wachstum zu unterscheiden. Er habe "die Hoffnung, dass wir inwendig wachsen an Weisheit und Erkenntnis". Sauer ist Vorsitzender des Dialogforums "Denk.Raum.Fresach", das die Toleranzgespräche veranstaltet.
"Gegenwartsbesessen und zukunftsvergessen"
Zur Frage "Planet geplündert - bereit für Veränderung?" befassten sich Vortragende mit dem Thema Wachstum. Der deutsche Bestseller-Autor und Öko-Visionär Franz Alt lud zu einem Gedankenexperiment: Headlines in einer "Ökologischen Tagesschau" könnten etwa lauten: "Heute haben wir wieder 50.000 Hektar fruchtbaren Boden verloren." Der bekannte Journalist kritisierte, dass heute noch immer weltweit Atomkraftwerke in Betrieb sind. Die ständige Gefahr von Katastrophen sowie die Endlagerung veranlassten Alt zur provokanten Frage, ob "wir uns wirklich 'Homo sapiens' nennen" sollten. "Wir sind gegenwartsbesessen und zukunftsvergessen."
Alt plädierte für einen differenzierten Wachstumsbegriff, da der Begriff verengt auf ökonomisches Wachstum sei, und hier könne es kein unbegrenztes Wachstum geben. Wichtiger sei es, im geistigen, kulturellen und spirituellen Sinne zu wachsen: "Ohne dass wir geistig mehr wachsen, kriegen wir die Kurve nicht!" Eine Alternative zum klassischen Wachstumsbegriff wäre auch der Begriff der Reife.
Wirtschaftsethik in der Bibel
Die evangelische Theologin Barbara Rauchwarter meinte, dass es schon im Alten Testament eine Wirtschaftsethik gegeben habe und die sei "von unten her gedacht" worden, zum Wohlergehen der einfachen Leute. "In der Wirtschaftsethik der Bibel sind die Gesetze sozialverträglich", so Rauchwarter. "Ziel ist die Verhinderung von Armut und Schulden." Am Sabbat ist Juden profitorientiertes Handeln verboten. Besonderes Augenmerk legte die Theologin auf das "siebte Jahr, das Sabbatjahr, in dem die Schulden erlassen wurden". Selbst Sklaven wurden freigelassen und mit Grundeinkommen ausgestattet.
Der Mensch sehne sich nach einer neuen Ordnung, bemerkte auch "Club of Rome Austria" Präsident Hannes Swoboda, "aber wir haben sie noch nicht erarbeitet". Auch er machte sich stark für ein neues Verhältnis zur Natur, deren Teil der Mensch ja sei.
Die Eröffnungsrede der Europäischen Toleranzgespräche 2023 in Fresach hielt Marlene Streeruwitz zum Thema "Wachstum am Anfang - Zukunft am Ende?" Die Schriftstellerin befasste sich in poetischen Sprachbildern mit dem Zusammenspiel von Wirtschaft, Wissenschaft und Fragen nach dem Leben und Tod. Sie kritisierte den Selbstzweck des Profits und plädierte für eine Freiheit aller, denn "Freiheit nur für Einzelne ist die Unfreiheit der Anderen".
Schärferer prophetischer Ton
Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Schneider machte kein Hehl daraus, dass es zum komplexen Thema der Europäischen Toleranzgespräche keine einfachen Antworten gebe. Der Mensch habe als Teil der Schöpfung eine bestimmte Verantwortung, sagte Schneider in Villach bei der Auftakt-Veranstaltung am Mittwochabend. Laut Bibel soll er für Wachstum sorgen und sich die Erde untertan machen, aber auch die Erde bebauen und bewahren. Diese beiden Aufträge gerieten jedoch heute in Konkurrenz zueinander.
Zum Begriff Ethik meinte der ehemalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, dieser Begriff "verweist darauf, dass Menschen in Verantwortung vor die Aufgabe gestellt sind, nicht nur sachgerecht, sondern menschengerecht zu wirken". Sein Appell: "Wir sollten uns an einer Ethik des Genug orientieren! Die Ethik des Genug zielt darauf, dass Menschen ein lebenswertes Leben gelingt." Statt sich einer "tagesaktuellen Gier auszuliefern", gelte es, sich nach ethischen Vorgaben zu richten.
Schneider verwies auch auf die Propheten des Alten Testaments, die vor Unheil warnten. Man könne von den Propheten etwa "die Klarheit der Sprache" lernen.
Deutliche Worte fand Schneider auch zum Turbokapitalismus, der auf schnelles Wachstum aus ist. "Ein rein finanzgetriebener Kapitalismus wird die Erde unbewohnbar machen, weil er ethisch blind ist". Man könne zwar niemanden zu einem genügsamen Lebensstil zwingen, aber wenn sich viele Menschen an vielen Orten in dieselbe Richtung bewegen, könne sich etwas verändern. (Infos: www.fresach.org)